Ist ein Leben ohne DWZ möglich?

Über den Sinn von Wertungszahlen im Schach habe ich mich bereits in anderen Beiträgen und Kommentaren geäußert. Gleichwohl möchte ich die besinnliche Zeit dazu nutzen, meine Thesen – bevor das Lutherjahr zu Ende geht – noch einmal zu erläutern. Um es vorwegzunehmen: Ich bin dafür, dass die Spielstärke von Schachspielern durch ein Wertungssystem gemessen und dokumentiert wird. Ohne entsprechende Kriterien ist Leistungssport in der heutigen Zeit nicht möglich. Die Betonung liegt auf Leistungssport. Für diejenigen, die das Schachspiel „just for fun“ betreiben, sind Wertungszahlen indes fragwürdig und führen dazu, dass die wahren Werte in den Hintergrund rücken.

Nichts ist in Stein gemeißelt. Die Deutschen Wertungszahlen (DWZ) wurden erst 1993 im Zuge der Deutschen Vereinigung eingeführt. Zuvor gab es im Westen das Ingo- und im Osten das NWZ-System. Das Rating-System (Elo) der FIDE gibt es bereits seit 1960. Dieses System hat sich durchgesetzt und mit zunehmender Internationalisierung auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Ab den Landesligen gibt es nur wenige Schachspieler, die keine Elo-Zahl haben. Wozu benötigen diese Spieler parallel eine Deutsche Wertungszahl? Diese Wertungszahlen sind ja nicht deckungsgleich, sondern unterscheiden sich nicht selten um 200 Punkte. Meistens sind die DWZ niedriger. Einem Schachspieler, der eine Elo-Zahl hat, würde man also nicht wehtun, seine DWZ zu streichen. Was ist mit den Schachspielern ohne Elo-Zahl?

Ab einer DWZ >1900 gilt ein Schachspieler als „herausragender Vereinsspieler“. Das ist für mich die Schwelle zum Leistungssport, an der Wertungszahlen – und zwar Elo – zweckmäßig sind. Talentierte und ehrgeizige Schachspieler werden diese Schwelle früher oder später überschreiten, die anderen bleiben irgendwo hängen. Die Spielstärke dieser Schachspieler wäre nicht kategorisiert, wenn die Deutschen Wertungszahlen abgeschafft würden. Sie wären damit äußerlich gleich; niemand müsste sich schämen, ängstigen oder mit erhobener Nase durchs Spiellokal laufen. Plötzlich zählten die wahren Werte, nämlich die Schachpartie als Kunstwerk und nicht als sozialer Maßstab. Der Gegner wird als Mensch gewürdigt, nicht als potentielles Hindernis auf der Ratingleiter. Partie- und Turniererfolge erscheinen in einem anderen Licht. – Wie sehr dieses Ratingdenken jedoch verhaftet ist, zeigt ein Satz, der gebetsmühlenartig im Blog der Hamelner auftaucht: „Elo(DWZ)-Zahlen spielen kein Schach.“ Wie wahr! Aber wir beten die Zahlen an.

Dass ich mit meinem Beitrag die deutsche Schachwelt nicht verändern werde, ist mir bewusst. Aber ein bisschen zum Nachdenken anregen, möchte ich schon. Welche Auswüchse der Rating-Hype bereichsweise angenommen hat, möchte ich an einem Beispiel erläutern. Gegen die Auswertung bedeutender Turniere habe ich nichts, aber müssen es denn Vereinsmeisterschaften aus der Kreisklasse sein? Eine bemerkenswerte Dame ist mir besonders aufgefallen: Christa Elfers (SK Union Oldenburg). Sie hat sich kürzlich bei einem Turnier um drei Punkte auf DWZ 657 verschlechtert, weil sie sämtliche Partien (4) verloren hatte. Bei einem Turnier zuvor hatte sie auch sämtliche Partien (7) verloren. Die rüstige Dame hat im hohen Alter ihre Liebe zum Schachspiel entdeckt. Das ist bravourös. Dass sie keine Meisterspielerin mehr werden kann, weiß sie selbst. Aber weder ihr noch der Schachwelt tut man einen Gefallen, ihre Spielstärke in einem System zu erfassen. 24 Mal wurde sie inzwischen ausgewertet! Wofür? Schachspielerinnen und Schachspieler unter DWZ 1000 gelten als Anfänger. Anfänger sind Anfänger und keine Zielgruppe für Zahlenjunkies.

Vor zweieinhalb Jahren hat die Nordwest-Zeitung über diese sportliche Dame berichtet: https://www.nwzonline.de/oldenburg/sportliche-rentnerin-hat-den-bogen-raus_a_26,0,1271235957.html