Wahnsinn! Vor 25 Jahren war dieses Wort in aller Munde. Selbst der besonnene Joachim Just benutzte es, als er mir am 02.01.1990 einen Brief aus Leipzig schrieb: „Am 22./23. war ich anläßlich der Eröffnung des Brandenburger Tores bei einem Studienkollegen in Berlin. Das häufig gebrauchte Wort „Wahnsinn“ traf auch hier zu.“ Was gestern in Hannover abging, hat es verdient, dass dieses eigentlich abgedroschene Wort wiederbelebt wird. Für diesen einen Tag zumindest. Das Vorspiel am Donnerstag war verhalten. Den ganzen Tag über ließ sich die Sonne nicht einmal blicken. Ab Mittag strömten zwar die Besucher, aber es war angesichts des Werktags nicht überwältigend, und die wenigsten gelangten dorthin, wo Schachspielen angesagt war.
Am Feiertag muss jemand den Schalter umgelegt haben. Die Sonne schien von der ersten bis zur letzten Minute, nicht eine einzige Wolke verirrte sich am Himmel, es herrschte T-Shirt-Wetter, und die Menschen strömten und strömten. 500.000 sollen es laut Polizeiangaben gewesen sein. Bei nicht politisch motivierten Veranstaltungen hängt die Polizei gern eine Null hinten dran. Diese Zahl entspricht indes meinen eigenen Schätzungen. Bevor ich über den „Tag der Deutschen Einheit“ und die Feier im Allgemeinen ein paar Worte verliere, möchte ich mich der real praktizierten Öffentlichkeitsarbeit unserer Schachorganisationen widmen.
Es gehört viel Idealismus dazu, sich mit ein paar Utensilien auf einen öffentlichen Platz zu stellen und fürs Schachspiel zu werben. So ähnlich müssen sich die Zeugen Jehovas fühlen, wenn sie mit dem Wachtturm in der Hand auf dem Trottoir stehen. Kein Mensch interessiert sich dafür bis auf die wenigen Anhänger, die meist unter sich bleiben. Bis Freitagmittag war das wohl auch so in der Spielmeile. Dann schwappte der Besucherstrom über, und der Nachwuchs sorgte für Stimmung. Die Mädchen und Jungen, die von der Deutschen Ländermeisterschaft herübergekommen waren, bereicherten nicht nur quantitativ die Szene, sondern sorgten mit „Kondischach“ für Action, das viele Zuschauer in ihren Bann zog.
Simulationsschach konnte ich nicht entdecken. Auch fand die angekündigte Live-Übertragung von Partien der Ländermeisterschaft nicht statt. Doch dafür hätte sich sowieso keiner interessiert. Aus meiner Sicht ist die Öffentlichkeitsarbeit gelungen. Deshalb sollten wir denen danken, die sich dafür eingesetzt haben. Einen aktuellen Bericht gibt es auf der Webseite des NSV. Ich lasse meine Fotos sprechen:
Dass der Tag der Deutschen Einheit durchaus kritisch gesehen werden kann, möchte ich nicht verschweigen. Die Medaille hat eine Kehrseite, und die sieht nicht nach Schlaraffenland aus. Am Donnerstagabend gab es auf dem Opernplatz eine Gegenveranstaltung, bei der die Berliner Pop-Punk-Band namens „The toten Crackhuren im Kofferraum“ auftrat. Das muss eine Gesellschaft aushalten, wenn sie sich zugleich die „Wildecker Herzbuben“ leistet. Wer den berechtigten Weltschmerz zum Anlass nimmt, nicht fröhlich zu sein, macht etwas verkehrt. Von einem übertriebenen Nationalstolz ist die Mehrheit der Deutschen zum Glück weit entfernt.
Insofern war es richtig zu feiern. Wir Hannoveraner kennen solche Veranstaltungen. Schorsenbummel, Autofreier Sonntag und Entdeckertag sind ähnlich strukturiert. Nur diesmal war alles viel, viel größer. Dass der Wettergott mit einem Kaisertag seinen Beitrag geleistet hat, ist eben dieser „Wahnsinn“. Nicht auszudenken, wenn es gestürmt und geschüttet hätte. Und so konnte sich unser Volk, das sich die Vielfalt auf die Fahnen geheftet hat, so vielfältig wie möglich präsentieren. Für diejenigen, die nicht dabei waren, habe ich in meiner Bildergalerie einige Motive zusammengefasst.
Einen Minuspunkt bekommen die Veranstalter der Einheitsfeier dennoch von mir. Die Schlussfeier mit der Lasershow und dem Feuerwerk wurde dadurch gestört, dass der Mond mittendrin unbeirrt weiterleuchtete. Konnte den Mond niemand solange abdecken? Mit einem Handtuch oder so?