Bergen war eine Reise wert

Die Hinfahrt war grauenhaft. Es schüttete wie aus Kübeln. Erst nachdem Christine Harderthauer zwei Tage später zurückgetreten war, besserte sich das Wetter schlagartig. Zum Vorschein kam eine Landschaft, wie sie lieblicher kaum sein kann. Bevor ich mit meinem Bericht fortfahre, zeige ich euch einen Blick auf den Ort Bergen aus der Seilbahngondel, die mich auf den 1.674 m hohen Hochfelln gehievt hat. Hinten links ist der Chiemsee zu sehen.
Bergen-01Bislang hatte ich Seniorenschach eher skeptisch betrachtet. Nach diesem Turnier bin ich voll des Lobes. Es gibt auf Landes- und Bundesebene einige engagierte und fähige Funktionäre, die solche Turniere zu einem Erlebnis machen. Auch die Berichterstattung im Internet ist vorbildlich, sodass ich auf die Wiedergabe der nackten Daten verzichten kann. Stattdessen möchte ich euch meine persönlichen Eindrücke vermitteln.

Es gibt Momente im Leben, da passt alles zusammen. Reinhard Piehl hatte zwei Teams aufgestellt, in denen die Chemie stimmte. Das war die Voraussetzung für einen unvergleichlichen Lauf, der zum erstmaligen Gewinn der Deutschen Mannschafts-meisterschaft unserer 1. Mannschaft führte. Auch unsere zweite konnte sich gut verkaufen. Allen voran Gerhard Kaiser am 1. Brett. Er verlor nicht ein einziges Mal und konnte zweimal gewinnen. Lediglich zwei der sieben Mannschaftskämpfe gingen verloren. Bei den unentschiedenen Kämpfen standen wir zweimal auf Gewinn. Dazu und zu meinem Abschneiden komme ich im Laufe meines Beitrags zurück.

Reinhard Piehl
Reinhard Piehl

Das Dream Team

Von links nach rechts: Christian Clemens, Juri Ljubarskij, Matias Jolowicz, Dieter Jentsch, Reinhard Piel, Gerhard Kaiser, Gerhard Streich, Alexander Schneider und Mihail Davydov
Von links nach rechts: Christian Clemens, Juri Ljubarskij, Matias Jolowicz, Dieter Jentsch, Reinhard Piel, Gerhard Kaiser, Gerhard Streich, Alexander Schneider und Mihail Davydov

Für mich war das Turnier wie eine Zeitreise. Ich habe Schachfreunde wieder getroffen, die ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Bis zurück in meine Kindheit gingen meine Erinnerungen. Es ist 60 Jahre her, als dieses Foto aufgenommen wurde:

Bergen-04

 

 

Der kleine Junge bin ich. Es war 1954 mein erster richtiger Urlaub, und zwar in Inzell, das liegt einen Katzensprung von Bergen entfernt.

 

 

Etwas älter als ich auf dem Foto war Stephan Buchal (Bremens 1. Brett), als ich ihm das erste und einzige Mal begegnet bin. Es war beim Jugendturnier des Osterkongresses 1967 in Hannover. Am 17.10.2013 habe ich euch darüber berichtet. Stephan konnte sich meiner vage erinnern. In den Jahren 1970 und 1971 wurde er Niedersächsischer Jugendmeister. Seinen jugendlichen Charme hat sich Stephan bis heute bewahrt.

Joachim Just
Joachim Just

In der 2. Mannschaft von Sachsen-Anhalt spielte Joachim Just aus Leipzig. Wir hatten uns seit 1991 nicht mehr gesehen. Vor und nach der Wende haben wir uns bei Freundschaftskämpfen kennen und schätzen gelernt. Ich habe bei ihm in Leipzig übernachtet, er bei mir in Hannover. Joachim ist pensionierter Lehrer. Seine Familie ist „schachverrückt“. Seine Frau Dr. Gabriele, seine Tochter Dr. Anita und sein Sohn Wolfgang sind ebenfalls aktiv. Und das nicht schlecht…!

Einen Schachspieler hatte ich noch nie gesehen. Dafür war sein Name in meinem Hinterkopf gespeichert: Dr. Peter Kopp. Er war bei Hessen 2 am 3. Brett aufgestellt. Gegen Peter Kopp habe ich 1967/68 eine Fernschachpartie gespielt. Damals war er Mathematik-Student im 3. Semester an der UNI Darmstadt. Auf diese Partie habe ich ihn im Turniersaal angesprochen. Er konnte sich kaum erinnern und stellte die naheliegende Frage: „Wie ist die Partie denn ausgegangen?“ Die Antwort kann ich mit seiner letzten Postkarte nachliefern. Es war seine Aufgabe, die er in nette Worte gefasst hatte:
Bergen-06
Ich habe mir die Partie noch einmal angesehen. Es war ein heißes Match. Sie hat nichts von ihrem Feuer verloren, deshalb könnt ihr sie in meinem Kommentar gern nachspielen.

Das Niveau der 110 aktiven Senioren und Seniorinnen (Anzahl 3) war ausgesprochen hoch. Drei Internationale Meister und sieben FIDE-Meister waren darunter. Ich hatte nicht einen Gegner <ELO 2000. Der ELO-Durchschnitt unserer jeweiligen Gegner stellte sich wie folgt dar:

1. Mannschaft
1. Brett FM Prof. Dr. Christian Clemens   ELO 2235  Ø 2242   5,0 Punkte
2. Brett Juri Ljubarskij                                 ELO 2258  Ø 2238   4,5 Punkte
3. Brett Dr. Matias Jolowicz                         ELO 2175  Ø 2165    4,5 Punkte
4. Brett Dieter Jentsch                                  ELO 2138  Ø 2170    4,5 Punkte

2. Mannschaft
1. Brett Gerhard Kaiser                                ELO 2120  Ø 2120    4,5 Punkte
2. Brett Gerhard Streich                              ELO 2124  Ø 2155     3,0 Punkte
3. Brett Alexander Schneider                     ELO 2061  Ø 2087    3,5 Punkte
4. Brett Mihail Davydov                              ELO 2061  Ø 2118     3,0 Punkte

Juri Ljubarskij
Juri Ljubarskij

Mit 81 Jahren war Juri Ljubarskij der älteste Niedersachse. Was er trotz seines hohen Alters aufs Brett zaubert, ist bewundernswert. Hier eine Kostprobe aus der 2. Runde gegen FM Berthold Bartsch (2243) Bayern 1:

Juri Ljubarskij-Berthold Bartsch
Juri Ljubarskij-Berthold Bartsch

Der letzte schwarze Zug 19… Lc5-b4 war ein schlimmer Fehler. Richtig war 19… Lc5-e7 und Schwarz kann sich vorerst halten. Juris Zug war eine Granate: 20.Td7!! Schwarz gab auf. Auf ähnliche Weise hätte 20.Sf6+ gewonnen: z.B. 20… Kh8 21.De4 g6 22.Se8+

Das war die einzige Niederlage von FM Berthold Bartsch. Er holte trotz dieses KO-Schlags mit 5,5 Punkten das beste Ergebnis aller Teilnehmer am 2. Brett.

Mihail Davydov
Mihail Davydov

Aber es gab auch Reinfälle. Mihail Davydov versäumte in der 2. Runde gegen eine Dame aus Schleswig-Holstein seinen 40. Zug (er hatte Schwarz) rechtzeitig auszuführen. Er drückte die Uhr eine Sekunde zu spät. Dabei stand er total auf Gewinn. Das kostete uns den Sieg gegen Schleswig-Holstein. Mihails Missgeschick glich sich allerdings wieder aus, als sein Gegner aus Hessen in der 6. Runde eine klar gewonnene Stellung verdaddelte.

 

Dieter Jentsch
Dieter Jentsch
Der Kantersieg gegen Nordrhein-Westfalen aus der Vogelperspektive
Der Kantersieg gegen Nordrhein-Westfalen aus der Vogelperspektive

Einen unglaublichen Schreckmoment erlebte Dieter Jentsch im Kampf gegen Michail Bogorad (ELO 2195) aus Nordrhein-Westfalen. Dieter hatte folgende Stellung auf dem Brett:

Bogorad-Jentsch
Bogorad-Jentsch

 

 

 

 

 

Dieter war am Zug. Zuvor hatte er mit seinem Läufer den Turm auf f1 geschlagen. Statt aufzugeben, hatte sein Gegner Bauer d6-d7 gezogen und auf ein Wunder gehofft. Das wäre beinahe eingetreten. Dieter war ein bisschen in Zeitnot. Zwei Minuten standen noch auf seiner Uhr, und für jeden weiteren Zug gab’s 30 Sekunden Aufschlag. Also kein Grund zur Panik. Doch Dieter war so nervös, dass er nach d6-d7 nicht innehielt und dann d2-d1D zog, sondern sich sofort seinen Läufer schnappte und diesen auf dem Feld a6 absetzen wollte. Dann sah er das Malheur: der Läufer hatte die falsche Diagonale im Visier. Die Damenumwandlung der weißen Partei war nicht mehr zu verhindern. Zum Glück hatte Dieter den Läufer nicht losgelassen. Etwa eine Minute lang ließ Dieter den Läufer in verständlicher Erregung über dem Brett kreisen, bis er die Rettung Ld3 fand. Nach d7-d8D und d2-d1D+ ließ Dieter nichts mehr anbrennen und gewann die Partie in wenigen Zügen. Ohne diesen wichtigen Brettpunkt wäre aus der Deutschen Meisterschaft voraussichtlich nichts geworden.

Über meine eigenen Partien werde ich euch in einem gesonderten Beitrag am Wochenende informieren. Wer mehr über die DSMM erfahren und weitere Fotos sehen möchte, die aus meiner Kamera stammen, sollte die Senioren-Webseite des NSV anklicken. Die ist bei Alfred Newerla in ausgezeichneten Händen:

http://nds-schachsenioren.de/

Ohne das richtige Ambiente macht Schachspielen keinen Spaß. In Bergen stimmte alles: das Spiellokal, der Ort, die Umgebung und die freundlichen Menschen. Wer gut zu Fuß war, unternahm stundenlange Spaziergänge. Ein Muss ist die Fahrt mit der Seilbahn auf den Hochfelln. Der höchste Berg weit und breit ist sozusagen die Aussichtsterrasse des Chiemgaus. Wer oben ankommt, kann etwas für seine Bildung tun. Dass die Alpen in Wirklichkeit aufgetürmter Meeresboden sind, wissen wir natürlich. Aber wer kann auf Anhieb folgende Frage richtig beantworten, die am Gipfellehrpfad gestellt wird?

„Ein Felsbrocken, der auf der Erdoberfläche 1 Tonne wiegt, wiegt wieviel, wenn er sich im Erdmittelpunkt befindet?“ Antwort: „Nichts!“

Rund 50 Schachfreunde und Schachfreundinnen nahmen an einem Ausflug nach Salzburg teil. Ich auch. Wie sehenswert Salzburg ist, können die, die es noch nicht wissen, anhand meiner Bildergalerie nachvollziehen. Unser Busfahrer hieß Stefan Pletschacher. Der Name bürgt für Qualität. Schachspielen kann er nicht, verriet uns der sympathische Stefan, aber in einer anderen Disziplin ist er amtierender Deutscher Meister: im Eisspeedway. Die Sportart ist in Deutschland etwa so populär wie 4er Synchronschwimmen, nur viel erotischer.

Wer in Bergen übernachtet, muss pro Tag einen Euro Kurtaxe bezahlen. Das Geld habe ich gern gegeben, denn der Ort ist wunderschön. Das gilt auch für das Bergener Moos, einem Naturschutzgebiet, das sich in Richtung Westen erstreckt. All die Schönheiten habe ich auf vielen Fotos festgehalten. Achtzehn davon habe ich für die Bildergalerie ausgesucht.