Die Straße lebt!

Seit 35 Jahren wohne ich dem Stadtteil, der sich neuerdings JAMIEL-Kiez nennt. Gestern durfte ich an einem außergewöhnlichen Ereignis teilhaben: dem allerersten Straßenfest fast ohne geparkte Autos, aber mit viel guter Laune, prächtigem Wetter und Schach zum Anfassen. Dort, wo sonst 250 Autos Stoßstange an Stoßstange stehen, und es ein Hingucker ist, wenn mal zwei Parkplätze hintereinander unbesetzt sind, vergnügten sich Jung und Alt auf vielfältige Weise.

Die Veranstaltung war der erste Höhepunkt in dem Bestreben, mehr Lebensqualität zu entfachen und die gute Nachbarschaft zu fördern. Plötzlich nehme ich Menschen wahr, die mir bislang fremd waren, grüße sie, plaudere mit ihnen und die mit mir. Es gibt viele nette und kreative Menschen in meiner Nachbarschaft, die sich zusammengetan haben, um mit der Idee vom KAMIEL-Kiez identitätsstiftend auf die Anwohner einzuwirken. Soll heißen: vor der Haustür soll es lebenswerter werden.

In der Mitte steht Hannovers Oberbürgermeister. Der wohnt auch in unserem Kiez und hat es sich nicht nehmen lassen, sich unter sein Volk zu mischen. Dabei kam er mit Sachverstand an meinen Schachstand. Wir plauderten eine Weile miteinander. Eine seiner Leidenschaften sei das Fotografieren. Er betrachtete fachkundig meine Kamera und kam von sich aus auf die Idee, von meiner Gattin und mir ein Foto zu schießen. Das Foto ist damit ein echter Schostok.

Auf dem Tisch seht ihr mein Go-Spiel liegen. Das hatte ich zusätzlich mitgebracht. Und siehe da, unter den Kiezgängern waren zwei, die das Go-Spiel gut beherrschen (hier mit gevierteltem Brett).

Und da wäre noch eine Dame, die 15 Jahre lang im Deutschen Bundestag saß und nun vor uns auf der Straße stand: Prof. Monika G. Sie zog anschließend mit den 60+ Jährigen durch den Kiez.

Echte Schachspieler waren rar. Karen war jedoch wie versprochen gekommen. Sie spielt für die SG Blau-Weiß Eilenriede. Nebenbei betreut sie ihren taubblinden Lebensgefährten, der trotz seiner Einschränkungen gern und gut Schach spielt.

Yoga auf Kopfsteinpflaster sieht man auch nicht alle Tage.

Auf eine junge Dame möchte ich euch aufmerksam machen, die mir gegenüber wohnt, etwas Kreatives studiert, Schlagzeug und Kontrabass spielt, leidenschaftlich Geschichten aus dem Stegreif schreibt und die auf ihrer eigenen Webseite präsentiert. Marilia heißt sie und ist gerade am Tippen. „Kreative Hirngespinste und Wortmalereien über das kunterbunte Leben“, sind ihr Credo. Damit trifft sie genau meinen Nerv. Guckt ihr hier: https://marillenbaererzaehlt.wordpress.com/

Gute Laune soweit der Kiez reicht:

Und wie wurde mein Schachstand angenommen? Großartig! Acht Stunden lang herrschte kaum Stillstand. Die großen Schachfiguren sind vor allem für Kinder ein Anreiz. Die Allerkleinsten haben damit die größte Freude. Wer weiß, vielleicht bleibt die Faszination bei ihnen im Hinterkopf gespeichert und entwickelt sich später zu einer Leidenschaft fürs Leben.

Deshalb kann ich euch nur empfehlen: Runter vom Sofa, rauf auf die Straße! Möbelt eure Wohngegend auf und freundet euch mit euren Nachbarn an. Dann macht das Schachspielen noch mehr Spaß. Ein paar Eindrücke bekommt ihr zum Schluss.

Noch ein Hinweis zur dämlichen DSGVO. Fotos von Personen, bei denen ich mir über das Einverständnis nicht sicher bin, habe ich ein wenig geschwärzt.

JAMIEL-Kiez

Drei Straßen. Ein Name. Ein Kiez: JAMIEL. Wer wissen möchte, was es damit auf sich hat, muss weiterlesen. So viel sei vorab gesagt: „Der Kiez soll Weltkulturerbe werden.“ Jawoll! Das berichten aktuell die Medien. Immer langsam mit den jungen Jamielianern. Erstmal ist das Freizeitheim Linden dran, dann St. Pauli und dann JAMIEL, das Tor zur Welt für unerfahrene Hannoveraner, die auf ihrem Weg gen Westen die Ihme überqueren.

JAMIEL gibt es erst seit Anfang dieses Jahres. Und schon wird gefeiert:

Am kommenden Samstag ist es soweit. Dann sind Autos im Kiez tabu. Das wird für manche Anwohner ein Kulturschock werden. Etwa so, als würde jemand aus dem Maschsee den Stöpsel ziehen. Dabei ist das nur ein Vorgriff auf Lindens Tausend-Jahr-Feier. Dann gibt es sowie keine Autos mehr. Sind das nicht herrliche Aussichten? Wolfsburg wird renaturiert. Lokführer können aufatmen.

Archivbild mit Thomas L.

Wir Schachspieler nutzen die Gunst der Stunde. Mitten auf der Straße wird mit großen Figuren Schach gespielt. Dem Schachbezirk Hannover sei für die Leihgabe und Thomas E. für den Transport ausdrücklich gedankt. Das Schach-Set habe ich frostfrei gelagert. Am Samstagmittag wird es aufgebaut. Das Szenario habe ich schon vor meinen Augen: Gedankenversunkene Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer schieben die weißen und schwarzen Klötze hin und her, halbwissend was sie tun, begeisterte Nachbarn stehen links und rechts Fähnchen schwenkend auf dem Trottoir; und Alexander Gerst grüßt aus dem All.

„So lang‘ man Träume noch leben kann“ (Münchener Freiheit), klappt’s auch mit dem Nachbarn. Die Kiez-Macher sind frohen Mutes. Ich auch. Was tatsächlich aus dem Straßenfest und den Plänen darüber hinaus wird, werden wir sehen. Ihr könnt zum Erfolg beitragen. Über den Besuch netter Schachfreunde würden sich die Jamielianer freuen. Es gibt ein vielseitiges Unterhaltungsprogramm. Echte Schachspieler können sich auch mit echten Schachfiguren messen. Ein Schachspiel in Original-Größe und eine Schachuhr werde ich beisteuern. Wenn’s ein Blitzturnier im Freien werden soll, müsst ihr entsprechendes Equipment mitbringen. Für die Einstimmung lohnt sich ein Rückblick auf den „Wahnsinn“ aus dem Oktober 2014: https://www.schachfreunde-hannover.de/wahnsinn/

Was hat es nun mit JAMIEL auf sich? Die Antwort findet ihr hier: http://www.jamiel-kiez.de/

Die wichtigste Botschaft: Jamielianer sind dynamisch, visionär, vielseitig, konstruktiv, friedlich, optimistisch, energievoll, intelligent, freundschaftlich miteinander verbunden.“

Im Grunde wie Schachspieler. Mit der kleinen Einschränkung: sofern sie nicht gerade eine Schachpartie verloren haben…

Autofrei

„Raymond Angelo Belliotti war sehr jung, als er geboren wurde.“ – Seit 1998 findet jährlich der Europäische Tag des Fahrrades am 3. Juni statt. Auf den heutigen Tag habe ich mich vorbereitet, indem ich wieder ein bestimmtes Buch zur Hand genommen habe, das mir vor ein paar Jahren geschenkt wurde. Es trägt den Titel „Die Philosophie des Radfahrens“ und ist im Mairisch-Verlag erschienen. Das Buch ist wirklich lesenswert, weil internationale Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen – vom Philosophieprofessor bis zum Radprofi – ihre Sicht aufs Radfahren unterhaltsam darlegen. Belliotti hat über das Schicksal von Marco Pantani geschrieben. Eine Kurzbiographie über Belliotti gibt es am Ende seiner Analyse. Die Biographie beginnt mit dem eingangs zitierten Satz.

Nun weiß ich nicht, ob es sich um einen Fehler der Übersetzerin handelt oder so gewollt ist. Mit gefällt der Satz. Ich weiß nicht, ob ich sehr jung war, als ich geboren wurde, aber ich weiß, dass es nie zu spät ist, jung zu denken; d.h. nicht in verkrusteten Strukturen. Schach kann dabei helfen. Wenn, ja wenn wir uns nebenbei körperlich fit halten (Mens sana in corpore sano) und dazu beitragen, dass die Umwelt geschützt wird. Hannover hat zur Umwelt ein ambivalentes Verhältnis. Dank einiger Aktivisten tut sich etwas zum Guten. Wie schlimm die Auswirkungen des Autoverkehrs – vor allem an Ausfallstraßen – sind, zeigt dieses Beispiel aus Limmer:

Hannover ist heute positiv gestimmt. In der für Autos gesperrten Innenstadt ist jede Menge los. Es ist unglaublich, wie viele Möglichkeiten es gibt, sich sinnvoll zu beschäftigen, ohne dass dabei Schadstoffe in die Luft geblasen werden. Schachspielen gehört dazu; von Auswärtskämpfen im Emsland einmal abgesehen. Hannover 96 zeigte, wie’s geht:

Die Gesichter einiger Personen habe ich ein bisschen geschwärzt. Ihr wisst schon, wegen der DSGVO. Einen berühmten Schachfreund nebst Tochter darf ich euch jedoch ungeschwärzt zeigen:

Wer kein Risiko eingehen will, sollte Menschen künftig nur noch unter Wasser ablichten. Dazu habe ich folgendes Beispiel:

Wasserstadt-Triathlon am 2. Juni 2018

Wenn ich euch jetzt erzähle, dass diese Personen wenige Minuten später auf dem Rennrad saßen, wisst ihr das Fahrradfahren umso mehr zu schätzen. Wobei ich euch noch die Schlussworte aus der Biographie über Belliotti schuldig bin:

„Er lief einige Marathons, heiratete, schrieb ein paar Bücher, bekam zwei Kinder, lehrte sehr viel Baseball, verlor den Großteil seiner Haare und war beleidigt, als die restlichen dann auch noch grau wurden. Er besaß nie ein Fahrrad.“