Oktoberbilanz

Wir können uns nicht beklagen. Der Oktober war voll cool, obwohl er zu warm war. Er begann mit dem Wahnsinn und endet mit dem Wahnsinn. Heute wird hier und da bekanntlich das über den Großen Teich geschwappte Horrorfest namens „Halloween“ gefeiert. Das ist nichts für Schachspieler. Wir gruseln uns schon oft genug. Jede Verlustpartie ist ein Beleg dafür. Da halten wir es eher mit Margot Käßmann. Die freut sich auf den 500. Jahrestag der Reformation, der heute begangen wird. Luther sei kein makelloser Held gewesen, weiß sie gestern in der HAZ zu berichten. Man kann es auch anders ausdrücken: Martin Luther war ein richtiger Stinkstiefel. Womit wir bei uns Schachspielern sind. Anscheinend neigen einige zu rüpelhaftem Benehmen. So verstehe ich jedenfalls Fritz Oberts Ausschreibung zum 1. Regions-Dähnepokal 2014/2015:

„Verhalten am Brett und im Spiellokal:
Wer durch unangemessenes Verhalten, insbesondere in Folge von Alkohol- und Drogengenuss den Spielbetrieb stört, kann mit Partieverlust, Verweis aus dem Spiellokal bis zum Turnierausschluss belegt werden.“

Im Klartext: Seid friedlich, wenn ihr besoffen und bekifft Schach spielt!

Ganz nüchtern möchte ich hiermit Fritz‘ Bitte nachkommen, die Ausschreibung am „Schwarzen Brett“ unseres Schachvereins zu veröffentlichen. Schwarze Bretter und Schwarze Kanäle sind indes out. Deshalb mache ich das mit diesem Link:

http://schachbezirk-hannover.de/

Los geht’s am 5. November um 18:00 Uhr bei Kargah. Das ist dort, wo das Leine-Open stattfindet.

„Was bewegt Schachspieler an so einer Meisterschaft teilzunehmen? Das Faszinierende beim Spiel der Könige ist, dass es dort weder Würfel, Karten noch Glück gibt: es ist eine Mischung aus Reaktion und Gegenreaktion.“

Das ist ein Original-Auszug aus der Pressemitteilung des Schachbezirks I zur BEM in Lehrte. Keine Würfel, keine Karten, kein Glück. Und wenn dann noch Pech dazukommt… Ihr wisst schon. Torben Schulze (Hannover 96) hat Reaktion und Gegenreaktion am besten gemischt. Er wurde Bezirksmeister aller Klassen. Herzlichen Glückwunsch! Seitdem er regelmäßig unser Blog liest, wird er immer stärker. – Mitglieder unseres Vereins haben sich wacker geschlagen. Die Ergebnisse könnt ihr auf der Webseite des Schachbezirks Hannover nachlesen. Es wäre schön, wenn der eine oder andere an dieser Stelle von seinen Erlebnissen berichten würde.

So viel zu den Einzelschicksalen. Einmal mussten unsere 4 Mannschaften im Oktober ran. Bis auf die Zweite konnten alle gewinnen. Das ist eine Ausbeute, die Mut macht. Die Gewinner wissen, warum sie sich den Sonntag um die Ohren schlagen. Die anderen stellen sich berechtigterweise die Sinnfrage. In der besagten Pressemitteilung erfahren wir, dass nicht der Weg das Ziel ist, sondern: „Das pragmatische Ziel bleibt freilich, den Monarchen des Gegenspielers schachmatt zu setzen.“

Noch Fragen? Eine pragmatische Antwort gibt es von Arthur Schopenhauer:

Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss des Daseins.

Derart gewappnet können wir uns auf einen harten Winter einstellen. Merke folgende Bauernregel:

Will's Laub nicht von den Bäumen weichen, ist dies ein hartes Winterzeichen
Will’s Laub nicht von den Bäumen weichen, ist dies ein hartes Winterzeichen

In der Bezirksliga angekommen

Für uns ging es am vergangenen Spieltag darum, die Weichen in Richtung Klassenerhalt zu stellen. Unser letzter Ausflug nach Neustadt war schon 4 Jahre her, damals gewannen wir am letzten Spieltag mit 5:3, sicherten uns damit (theoretisch) den Klassenerhalt um anschließend die Mannschaft aus der Bezirksliga zurückzuziehen – ein Schicksal das uns hoffentlich in diesem Jahr nicht ereilen wird. Zum Start sah es nicht so gut aus. Um 10 Uhr ging der Mannschaftskampf mit auf unserer Seite nur 4 besetzten Brettern los. Nach und nach trudelten aber zum Glück die restlichen Schachfreunde ein und es entwickelte sich ein ausgeglichener Mannschaftskampf. Marc, der aus Hagenburg mit dem Fahrrad angereist war, startete etwas überhastet in die Partie und stellte nach wenigen Zügen eine Figur ein. Keine guten Vorzeichen, aber nach einer Zigarettenpause krempelte er noch mal die Arme hoch. Die erste Entscheidung fiel dann aber ziemlich schnell an Brett 2. Fredrik nutzte den löchrigen Königsflügel seines Gegners für den entscheidenden Schlag aus. Eine halbe Stunde später verbuchte ich für uns den 2ten Brettpunkt. Mein Gegner hatte in der Eröffnung zwei Tempos verloren, was sich anschließend nicht mehr kitten ließ. Olaf an Brett 1 sicherte den Vorsprung mit einem Remis in leicht vorteilhafter Stellung ab. Seine Stellung war vermutlich leicht vorteilhaft, allerdings war er etwas knapp mit der Zeit. Wir führten folglich mit komfortablen 2,5:0,5. Die Entscheidung brachte aus meiner Sicht der nächste Sieg an Brett 8. Keine Ahnung wie aber Marc hatte den Figuren-Einsteller wett gemacht und war in einem gewonnenen Turmendspiel gelandet. Dieser Sieg brachte uns endgültig auf die Siegerstrasse. Da machte es auch nichts aus, dass Hermann kurze Zeit später aufgeben musste. Er hatte im Mittelspiel durch einen Spieß eine Qualität eingebüßt und war in der Folge in einem Endspiel gelandet dass nicht zu halten war. Den nächsten Punkte verbuchte Uli. Er hatte aus der Eröffnung heraus Druck gemacht und konnte den Raumvorteil den ihm sein Isolani einbrachte zu Materialgewinn ummünzen. Am Ende gewann er das resultierende Endspiel sehr deutlich. 4:5, 1,5, der Sieg war besiegelt ! Es folgte eine Niederlage von Andre. Seine Partie war nach meiner Einschätzung zu (fast) jeder Zeit Remis. Allerdings geriet Andre am Ende in Zeitnot und bei einem ziemlich vollen Brett schlichen sich dann nach und nach kleine Fehler ein die am Ende den Verlust der Partie bedeuteten. Peter bot daraufhin seiner Gegnerin Remis an. Er war zwischenzeitlich mit 2 Bauern im Rückstand, konnte aber immerhin in ein Endspiel S+T + 3 Bauern gegen S+T+ 4 Bauern abwickeln. Die Partie Remis zu halten wäre vermutlich noch ein hartes Stück Arbeit geworden. Da das Spiel entschieden war einigten sich die beiden aber bei strahlendem Sonnenschein friedlich auf Remis. Am Ende also 5:3. Aus meiner Sicht durchaus verdient, an einem schlechteren Tagen hätte das aber auch ganz anders ausgehen können. Mit 4:0 Mannschaftspunkten stehen wir jetzt deutlich weiter oben als es die Papierform vorhergesagt hätte. Ich denke mit dem Abstieg werden wir in diesem Jahr nichts mehr zu tun haben. Wenn uns also nicht das gleiche Schicksal wie 2010 ereilen sollte werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach auch im nächsten Jahr der Bezirksliga erhalten bleiben.

Rauschende Siegesparty nach glücklichem Heimsieg – 4,5:3,5 gegen Laatzen

Heimsieg….hmmm, da im angestammten Lindener Freizeitheim ein Basar stattfand, durften wir uns für den 2. Spieltag eine neue Bleibe suchen: Das Freizeitheim Vahrenwald musste herhalten. Für einige von uns besser erreichbar, knuffig bei Sonneneinstrahlung, direkt an der Vahrenwalder Autobahn gelegen, daher 15-fach verglast und parallel Gastgeber eines Workshops für Regenherbeitrommeln – hat ja abends auch den rechten Erfolg gebracht :-(.

Dank Torsten Gans´ Engagement stand unser Spielmaterial pünktlich zur Verfügung. Der arme Jung hat die Kisten letztlich allein wieder nach Linden verfrachten müssen. Ein besonderes DANKE an dieser Stelle. Ja, aber dann wurde auch Schach gespielt. Oberliga-Absteiger gegen Mittelfeldverein, dem zum Saisonwechsel das Spitzenbrett abhanden gekommen ist. Das Ligaorakel (http://www.schachklub-bad-homburg.de/LigaOrakel/LigaOrakel.php?staffel=NSV_LLS&tabformat=L) freute sich über diese einfache Begegnung, bei der nur die Höhe des Sieges gefragt wird…PUSTEKUCHEN!

Während Laatzen mit Fidemeister und den Top-8 antrat, spielten wir erneut einen „Grand ohne drei“. Entsprechend hart, auf Augenhöhe und knapp waren die Partien. Der Reihe nach: Tom wurde recht kurz nach der Eröffnung Remis geboten – angenommen! Die übrigen Partien entwickelten sich spannend, so dass ich nach drei Stunden nur sagen konnte, dass Torsten gegen Dietmar (übrigens Mitglied bei den Schachfreunden) im Königsinder untergeht (22 Züge Eröffnungstheorie wurden gespielt!) und dass unser Altmeister Gerd gegen Altmeister Horst (früher ein Vahrenwalder) per Stellung und Zeitvorteil Oberwasser hat. Beides bewahrheitete sich. Dennie geriet zu diesem Zeitpunkt, an dem ich Remis bot, unter Druck und verlor schließlich kompensationslos eine Qualität – die Analyse zeigte versteckte Verbesserungsmöglichkeiten für Dennie. Gegner Toralf ist jedoch trotz fehlender Praxis ein versierter und zäher Spieler – Respekt. Eine wilde Partie spielten Bernd und Abdullah. Beide versuchten, mit kleinen Fortschritten zu was zu kommen, wehrten sich aber auch gegen die Drohungen – erfolgreich zum Remis. An Brett 7 spielte Martin diesmal von Stunde zu Stunde besser und souveräner auf und ging aus remislichem Dame+Leichtfigurenendspiel ins gewonnene Bauernendspiel über – sauber, allerdings vom Gegner auch als „Initiativtest“ ermöglicht. Nach so viel Durcheinander steht es also 3:3 bei zwei offenen Partien.

Ich selbst bin gut aus der Eröffnung gekommen und bastelte geschlagene 2 Stunden daran, den weißfeldrigen Läufer von Matthias in meine Stellung zu manövrieren und zu gewinnen – hat nicht geklappt, und der Preis war nach knapp vier Stunden eine schwächere Bauernstellung samt geopfterem Minusbauer im Turmendspiel – schien aber gut zum Remis zu reichen. Arthur hatte sich eine bequeme Stellung im Sizilianer aufbauen können, geriet durch Öffnung der Stellung und mit übersehenen Zügen zwischendrin unter Druck, konnte sich aber mit taktischen Drohungen in ein besseres Endspiel mit allen Schwerfiguren manövrieren. Prognse also auf 4:4 oder Sieg für uns.

Matthias quälte mich noch 10 Züge bis in Remis – aber… zöge er in der Schlussstellung mit dem König, so zeigen die Schachcomputer einen langzügigen Gewinn für ihn an. Das hatten wir beide nicht gesehen. Ich habe sogar konkret diesem Plan den Vorzug vor einer (wichtigen!) Königsannäherung gegeben. Schließlich drohte ich, auf von 3:4 aus 2:1 Bauern zu enteilen. GLÜCK! also an dieser Stelle.

Arthur befreite sich aus diversen Fesselungen und konnte letztlich dank eines Bauerns als Schutzschild voll auf Angriff und Matt spielen – mal von links, mal von rechts und nach gut 5 1/2 Stunden zum Mannschaftssieg. Herzlichen Glückwunsch und HOOOOORRRRRAAAAAAAY!

Auch die Afterparty samt Handyanalyse haben wir freiluftig im sonnigen Vahrenwald anstelle des Debakels (da zogen heuer unsere Gäste hin) bei Kioskbier verbracht, ein gelungenes Auswärts-Heimspiel also.

Die Lage der Liga: Hameln hat auch seine zweite Runde verloren, Braunschweig unentschieden gespielt. Die Landesliga ist ein hartes Pflaster für die Oberligaabsteiger. Einzige Mannschaft mit 4:0 Punkten ist Salzgitter. Schaffen die es etwa in dieem Jahr als „Underdog“ zum Aufstieg. Möglich scheint ALLES, jeder kann jeden schlagen! Mal schauen, ob uns der nächste Spieltag in Wolfsburg mal einen „Grand mit“ beschert.

http://nsv-online.de/ligen/nsv-1415/?staffel=784&r=

Leipzig 1989

Der Partnerschaftskampf in Leipzig 1989 war in der Tat sehr denkwürdig.
Zusätzlich zu der Stadtrundfahrt (u.a. Völkerschachtdenkmal, Leipziger Gewandhaus und Johann Sebastian Bachs Kirche) ist die Berliner Mauer während der Austragung der Partien gefallen. Ich meine, dass Leipzig mit einigen Titelträgern angetreten ist und den Wettkampf gewonnen hat, aber genaue Angaben habe ich auch nicht.
Hier ist ein Bild von meiner Partie und der Schlussstellung.
1989_leipzig0001_game
Neukich-Kölle Leipzig 1989

Neukich-Koelle1989_3
Neukirch-Kölle Leipzig 1989
In der Schussstellung, das offensichtliche 43.De6 wäre sehr wohl Remis, aber 43.Td2 hätte Schwarz für unlösbare Problems gestellt.

Am folgenden Tag standen die Leute schon Schlange, um ihre 100 DM Begrüßungsgeld zu kassieren.
1989_leipzig0015queue

Am Bahnhof (und im Zug nach Hannover) gab es sehr großes Gedränge. Es war ein Samstag und ich war besorgt, dass es kein Platz in den Zug nach Hannover geben würde. Am folgenden Tag gab es wieder Mannschaftskämpfe.
Hier ein Teil von der Mannschaft und Begleiter.

1989_leipzig0017_bhf

Partnerstadt Leipzig

Gestern wurde in Leipzig das gefeiert, was wir Schachspieler durch unseren unscheinbaren Einsatz vorbereitet hatten: die friedliche Revolution. Für die 200 geladenen Gäste gab es ein Drei-Gänge-Menü. Vorspeise: Fläminger Reh-Parfait und Käse vom Landgut Nemt, Hauptgang: Steinbuttfilet auf Kürbis-Ingwermousseline, Dessert: Leipziger Lerche auf Waldbeerenragout. Anno 1988 gab es Grünkohl im Ratskeller Hannover. Leipzig hatte eine 6-köpfige Schachauswahl nach Hannover geschickt. Das war ein außergewöhnliches Ereignis. Niemand ahnte, dass sich das deutsch-deutsche Verhältnis alsbald radikal ändern würde. Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg ließ es sich nicht nehmen, die Leipziger Delegation zu begrüßen. Gespielt wurde im Gobelinsaal des Neuen Rathauses. Da darf nicht jeder hinein. Frank Palm hat darüber einen lesenswerten Artikel (siehe Galerie) geschrieben, der am 22.12.1988 in der HAZ veröffentlicht wurde. Zu dem Artikel gehören die Fotos von Norbert Müller (Leipzig) und Peter Panzer (Hannover). Wir konnten einen knappen Sieg mit 3,5:2,5 Punkten verbuchen. Aber das war nebensächlich. Frank Palm formulierte es so: „Das positive Bild von der Weltoffenheit der Sachsen wurde bestätigt, während das Klischee von den steifen Hannoveranern eine erneute Widerlegung fand.“

Hannover-Leipzig Dezember 1988 – die Einzelergebnisse:
1. Panzer, Peter               ½  Trescher, Manfred
2. Mende, Andreas        1-0  Heinsohn, Günther
3. Cablitz, Achim           0-1  Müller, Norbert
4. Streich, Gerhard       1-0  Broberg, Horst
5. Herrmann, Andreas  ½  Kuhn, Udo
6. Naumann, Frank       ½  Gempe, Thomas

Leipzig-02Als wir ein Jahr später in Leipzig zum Rückkampf antraten, sah die Welt schon anders aus. Die DDR befand sich in der Auflösung. Das Hartgeld bestand noch aus Alu-Chips, aber unsere westdeutschen Münzen wurden gern genommen. Als ich einer Klofrau im Leipziger Hauptbahnhof ein Markstück auf den Teller legte, sah sie mich an, als sei ich der Heiland. Unsere Mannschaft bestand ausschließlich aus Spielern unseres Vereins. Einzelergebnisse sind mir leider abhanden gekommen.

 

 

Joachim Just anno 2014
Joachim Just anno 2014

Wimpel waren in der DDR sehr beliebt. Ich bekam diesen von der BSG Lok Leipzig. Aus dem SV Lok Leipzig-Mitte wurde im Jahr 2011 nach der Fusion mit dem SC Leipzig-Gohlis ein Großverein mit über 200 Mitgliedern. Die haben derzeit 2 Frauen-, 11 Männer- und 10 Jugendmannschaften. Ob solch eine Vereinsgröße zweckmäßig ist, will ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Joachim Just hat jedenfalls das Weite gesucht und spielt jetzt beim SV Motor Zeitz.  Wie ich bereits an anderer Stelle berichtet habe, übernachtete ich 1989 bei Joachim in Leipzig. – 1990 kam es zum Rückkampf in Hannover. Danach gab es meines Wissens keine weiteren Begegnungen zwischen Leipzig und Hannover. Das Leben hat sich normalisiert.

Einen sensationellen Fund aus meinem Archiv möchte ich euch noch zeigen. Bereits im Jahr 1957 gab es einen Freundschaftskampf zwischen der BSG Lok Leipzig und unserem Verein (damals Schachfreunde Badenstedt). Wer hätte gedacht, dass das damals überhaupt möglich war?

Leipzig-01

Calm After the Storm

Die Wurst hat besser abgeschnitten. Sonst hätte das holländische Duo „The Common Linnets“ den ESC 2014 gewonnen. Der Titel passt zu unserem derzeitigen Gemütszustand. Der Sturm hat sich gelegt. Der Wahnsinn ist vorbei. Wir Hannoveraner sind wieder unter uns. Alle sind fort: die wissbegierigen und feierfreudigen deutschen Bürger und Bürgerinnen sowie der schachspielende Nachwuchs. Um den Nachwuchs ist es gut bestellt, ist mein Eindruck. Ansonsten löst eine Null die andere ab, Göttingen erhält einen onanierenden Kragenbären als Denkmal, und was machen wir Schachspieler? Wir üben Selbstzweifel. Das muss nicht sein.

Der Herbst ist eine ehrliche Haut. Er zeigt uns seine Emotionen, ohne sie zu beschönigen. Er kann so traurig sein, dass Himmel und Erde zu einem Grau verschmelzen, er kann zürnen und stürmen, dass uns Angst und Bange wird, aber er kann auch die Sonne rauslassen, als würde er sich wie ein Honigkuchenpferd freuen. Solch einen Tag hatten wir vorgestern. Ich wollte ihn in aller Stille genießen. Dazu eignet sich vorzüglich der Georgengarten. Obwohl er riesengroß ist, war er fast menschenleer. Walker, Jogger, Studenten, Rentner, Hausfrauen und Pfandflaschensammler hatten offenbar Pause. – Unser Überleben sichern wir durch Weisheiten. Diese haben wir zwar verinnerlicht, müssen sie aber stets aufs Neue aktivieren: „In der Ruhe liegt die Kraft“, und „Nach dem Sturm ist vor dem Sturm.“ Die nächsten Stürme toben in unserer Nähe: in Laatzen, in Isernhagen, in Neustadt und in Berenbostel. Darauf muss der rasende Verstand mental vorbereitet sein. Damit das gelingt, habe ich euch ein paar Fotos mitgebracht. Sie sollen euch die Ruhe vermitteln und die Selbstzweifel nehmen. Dann haben die angesprochenen Vorstadtschachspieler gegen uns keine Chance.

Wahnsinn!

Wahnsinn! Vor 25 Jahren war dieses Wort in aller Munde. Selbst der besonnene Joachim Just benutzte es, als er mir am 02.01.1990 einen Brief aus Leipzig schrieb: „Am 22./23. war ich anläßlich der Eröffnung des Brandenburger Tores bei einem Studienkollegen in Berlin. Das häufig gebrauchte Wort „Wahnsinn“ traf auch hier zu.“ Was gestern in Hannover abging, hat es verdient, dass dieses eigentlich abgedroschene Wort wiederbelebt wird. Für diesen einen Tag zumindest. Das Vorspiel am Donnerstag war verhalten. Den ganzen Tag über ließ sich die Sonne nicht einmal blicken. Ab Mittag strömten zwar die Besucher, aber es war angesichts des Werktags nicht überwältigend, und die wenigsten gelangten dorthin, wo Schachspielen angesagt war. 

Am Feiertag muss jemand den Schalter umgelegt haben. Die Sonne schien von der ersten bis zur letzten Minute, nicht eine einzige Wolke verirrte sich am Himmel, es herrschte T-Shirt-Wetter, und die Menschen strömten und strömten. 500.000 sollen es laut Polizeiangaben gewesen sein. Bei nicht politisch motivierten Veranstaltungen hängt die Polizei gern eine Null hinten dran. Diese Zahl entspricht indes meinen eigenen Schätzungen. Bevor ich über den „Tag der Deutschen Einheit“ und die Feier im Allgemeinen ein paar Worte verliere, möchte ich mich der real praktizierten Öffentlichkeitsarbeit unserer Schachorganisationen widmen. 

Es gehört viel Idealismus dazu, sich mit ein paar Utensilien auf einen öffentlichen Platz zu stellen und fürs Schachspiel zu werben. So ähnlich müssen sich die Zeugen Jehovas fühlen, wenn sie mit dem Wachtturm in der Hand auf dem Trottoir stehen. Kein Mensch interessiert sich dafür bis auf die wenigen Anhänger, die meist unter sich bleiben. Bis Freitagmittag war das wohl auch so in der Spielmeile. Dann schwappte der Besucherstrom über, und der Nachwuchs sorgte für Stimmung. Die Mädchen und Jungen, die von der Deutschen Ländermeisterschaft herübergekommen waren, bereicherten nicht nur quantitativ die Szene, sondern sorgten mit „Kondischach“ für Action, das viele Zuschauer in ihren Bann zog. 

Simulationsschach konnte ich nicht entdecken. Auch fand die angekündigte Live-Übertragung von Partien der Ländermeisterschaft nicht statt. Doch dafür hätte sich sowieso keiner interessiert. Aus meiner Sicht ist die Öffentlichkeitsarbeit gelungen. Deshalb sollten wir denen danken, die sich dafür eingesetzt haben. Einen aktuellen Bericht gibt es auf der Webseite des NSV. Ich lasse meine Fotos sprechen:

Einheitsfeier-04
Einheitsfeier-05Einheitsfeier-06

Einheitsfeier-07Einheitsfeier-08

Einheitsfeier-09Einheitsfeier-10

Einheitsfeier-11
Dass der Tag der Deutschen Einheit durchaus kritisch gesehen werden kann, möchte ich nicht verschweigen. Die Medaille hat eine Kehrseite, und die sieht nicht nach Schlaraffenland aus. Am Donnerstagabend gab es auf dem Opernplatz eine Gegenveranstaltung, bei der die Berliner Pop-Punk-Band namens „The toten Crackhuren im Kofferraum“ auftrat. Das muss eine Gesellschaft aushalten, wenn sie sich zugleich die „Wildecker Herzbuben“ leistet. Wer den berechtigten Weltschmerz zum Anlass nimmt, nicht fröhlich zu sein, macht etwas verkehrt. Von einem übertriebenen Nationalstolz ist die Mehrheit der Deutschen zum Glück weit entfernt.

Insofern war es richtig zu feiern. Wir Hannoveraner kennen solche Veranstaltungen. Schorsenbummel, Autofreier Sonntag und Entdeckertag sind ähnlich strukturiert. Nur diesmal war alles viel, viel größer. Dass der Wettergott mit einem Kaisertag seinen Beitrag geleistet hat, ist eben dieser „Wahnsinn“. Nicht auszudenken, wenn es gestürmt und geschüttet hätte. Und so konnte sich unser Volk, das sich die Vielfalt auf die Fahnen geheftet hat, so vielfältig wie möglich präsentieren. Für diejenigen, die nicht dabei waren, habe ich in meiner Bildergalerie einige Motive zusammengefasst.

Einen Minuspunkt bekommen die Veranstalter der Einheitsfeier dennoch von mir. Die Schlussfeier mit der Lasershow und dem Feuerwerk wurde dadurch gestört, dass der Mond mittendrin unbeirrt weiterleuchtete. Konnte den Mond niemand solange abdecken? Mit einem Handtuch oder so?